Protokoll grüner JHA-Mitglieder 12.4.02
12. Apr. 2002
Protokoll des Treffens grüner JHA-Mitglieder vom 12.4.02 in Münster
Protokoll
des Treffens grüner JHA-Mitglieder vom 12.4.02 in Münster
Schwerpunkt: Schulsozialarbeit / Siegener Modell
1. Referat Frau Kühn vom Projekt Schulsozialarbeit in Siegen-Eiserfeld:
Gemeinsam ist allen in Anspruch nehmenden Familien, dass die Kinder keine adäquate Hilfe bei Schulangelegenheiten haben (Hausaufgaben) und dass Schulversagen vorliegt.
Die meisten Familien leben in schlechten sozialen Verhältnissen. Notwendig ist neben rein pragmatischer Hausaufgabenhilfe auch viel Motivationsarbeit.
Nach §27 KJHG ist präventive Arbeit zu leisten, bevor Defiziten erst entstehen können. Die Teilnahme am Projekt ist für die Kinder kostenlos.
Es geht darum, dass, was Familie den Kindern nicht mitgeben kann, zu kompensieren, nicht um eine Verlängerung von Schule in den Nachmittag (verkappte Gesamtschule).
Das Projekt ist während der Hälfte der Ferienzeit geschlossen.
Die Projekte finden in städtischen Kinder- und Jugendeinrichtungen statt. Es gibt auch offene Jugendarbeit.
Die Schule, der sozialer Dienst und das Projekt selbst platzieren die Kinder.
In Siegen-Eiserfeld sind 35 Kinder in jeder Gruppe; die Kinder sind durchschnittlich 3-4 Jahre im Projekt, viele die ganze Grundschulzeit hindurch.
Eiserfeld ist ein sozialer Brennpunkt. Auffällig war schon immer, dass es überdurchschnittlich viele Sonderschulzuweisungen gab, dass viele Kinder keinen Schulabschluss schafften.
Entstanden ist das Schulsozialarbeitsprojekt eher zufällig aus einem kleinen Hausaufgabenhilfe-Projekt, durchgeführt von StudentInnen im Praktikum. Die Grundschule hat schnell gemerkt, welch positive Auswirkungen das Projekt auf die Kinder hatte, wie sehr die Schulprobleme zurückgingen. Darum waren es in Siegen auch die Schulen, die dafür gesorgt haben, dass die erste Kraft fest eingestellt wurde. Später kamen weitere Kräfte hinzu. An Grundschulen kennt man Schulsozialarbeit eher selten, sie ist sonst hauptsächlich ein Angebot von Gesamtschulen.
Obwohl schon 150 Kinder in Siegen in der Schulsozialarbeit „stecken“, ist der Bedarf doppelt so hoch.
2. Referat von Frau Stahl – Schulleiterin der Gilberggrundschule Siegen
(Originalmanuskript)
Erste Wahrnehmung von Besuch im Lehrerzimmer zu Zeiten meines Vorgängers.
Selbstvorstellung: Ich mache mit einigen Kindern Ihrer Schule Hausaufgaben.
Erste Feststellung: Kinder erledigen regelmäßig ihre Hausaufgaben.
Nächste Wahrnehmung:
Frage: Um effektiv und „richtig Hausaufgaben zu tun“ müssten wir gelegentlich den Unterricht besuchen. Die Einladung wurde prompt ausgesprochen. Besuche entwickelten sich zur regelmäßigen Einrichtung.
Frau Kühn wurde als hauptamtliche Kraft für das Projekt „Schulsozialarbeit“ vorgestellt. Es wurde der Donnerstag für regelmäßige Besuche in der Schule festgelegt.
Kollegen empfanden die Hilfe als angenehm. Sie mussten sich nicht über nicht gemachte Hausaufgaben ärgern, ganz zu schweigen von den Kindern, die morgens ohne Bauchdrücken zur Schule kamen, weil sie sicher waren, ordentlich gearbeitet zu haben.
Empörung deshalb im Lehrerzimmer, als wir zum ersten Mal hörten, wegen Geldmangel im Stadtsäckel sollten die Fachkräfte abgezogen werden. Es herrschte einhellig die Meinung, man müsse sich dagegen wehren. Der Schulleiter hat also an die entsprechenden Gremien der Stadt geschrieben und auf die unabdingbare Notwendigkeit hingewiesen. Ich selbst habe dann als Schulleiterin im Laufe der Jahre ebenfalls einige Briefe verfasst, wenn wieder personelle Einschränkungen drohten, – mit unterschiedlichem Ergebnis.
Grundtenor: Wir brauchen die Schulsozialarbeit, weil Kinder sonst Gefahr laufen, in die Verwahrlosung abzurutschen und das wird dann für die Stadt richtig teuer. In aller Vorsicht haben wir den zuständigen Damen und Herren eine Verfünffachung der Kosten vorgerechnet, bedenkt man die Langzeitfolgen einer negativen Kinderkarriere.
Wichtig wurde im Laufe der Jahre ebenfalls, dass ganz genau abgesprochen wurde, welche Kinder zur Hausarbeitshilfe gehen durften. Die Warteliste ist lang.
Seit einigen Jahren gibt es in NRW den Erlass „Zusammenarbeit von Schule mit weiteren Trägern“. Bisher hatte die Schulsozialarbeit in den Köpfen der Kollegen mehr eine inoffizielle Hilfe bedeutet, d.h. man tat sich schwer mit dem Datenschutz und anderen juristisch unklaren Dingen. Nun, auf geregelter Basis ließen sich viel gezielter in Gesprächen auch problematische Kinderfälle besprechen.
In einem seit einigen Jahren gegründeten AK „Zusammenarbeit Schule – Jugendhilfe“ wurde uns der Jugendtreff „Fischbacher Berg“ vorgestellt. Die Probleme sind ähnlich gelagert wie bei uns, nur der Fischbacher Berg liegt im Sozialen Brennpunkt, deshalb sind die Probleme noch gravierender und auch zahlenmäßig größer.
Die Annäherung Sozialarbeiter-Lehrer erfolgte schleichend. Die Gewöhnung an die Sozialarbeiter in der Schule wurde durch die zunehmende Einsicht beschleunigt, dass Bildung nicht zu trennen ist von dem Umfeld der Kinder. Die Zusammenhänge von sozialem Umfeld und Lernerfolgen sind allseits bekannt. Dieses Umfeld aus der Schule auszuschließen heißt also zugleich Schulmisserfolge der Kinder mit einzukalkulieren.
Der Beruf des Lehrers bedeutet ja nicht mehr nur Vermitteln von Fachwissen oder Erziehen zu bestimmten gesellschaftlich relevanten Verhaltensnormen, Lehren in unseren Schulen heißt:
Bildung verschaffen, soziales Lernen und Verhalten üben, verhaltensauffällige Schüler .- sprich Individualisten mit den verschiedensten Verhaltensmustern- in die Lerngruppe integrieren, jedes Kind nach seinem Vermögen individuell fördern, LRS- Kinder betreuen, offene Unterrichtsformen gestalten, damit Kinder sich entfalten können und das alles ins Schulprogramm einarbeiten.
Dazu kommt Elternarbeit, die nicht mehr nur darin besteht, Eltern über den Lernstand ihrer Kinder zu informieren, sondern sich deren Erziehungs- oder Eheprobleme anzuhören, zu beraten und zu trösten, beim Eingeständnis von Hilflosigkeit in der Erziehung Mut zu machen und Wege aus der Misere zu suchen.
Ein weiterer Punkt ist die Integration von ausländischen und ausgesiedelten Kindern mit geringen oder keinen Sprachkenntnissen, Überbrückung von Fremdheit, Ausgegrenztheit und das Kennenlernen fremder Kulturen und Religionen.
Ein übriger wichtiger Bereich ist noch der, für Kinder, deren Eltern nicht über die finanziellen Mittel für Sportclubs, Musikschulen oder ä. verfügen, geeignete Freizeitbeschäftigungen zu finden, die nichts kosten, aber die Kinder inhaltlich ausfüllen.
In allen Bereichen haben wir Mitarbeiter aus unseren beiden Institutionen festgestellt, sind wir gar nicht weit entfernt voneinander.
Die Ziele der Jugendhilfe lassen sich zu einem großen Prozentsatz ähnlich definieren. Eine Annäherung aneinander war daher nahezu unvermeidlich. Wir sind über die Hausaufgaben hinaus ins Fachsimpeln gekommen.
Die Schule zumindest hat die Jugendhilfe entdeckt. Über das Fachsimpeln und Hausaufgaben erledigen haben wir zu einer echten Kooperation gefunden. Es besteht ein enger Kontakt zu Frau Kühn und Mitarbeitern.
Für uns ist dabei ganz wichtig, dass wir das Gefühl haben in speziellen Fällen, in denen wir nicht mehr weiter wissen, ad hoc Hilfe zu bekommen. Lehrer sind eben schlicht zum Lehren ausgebildet und nicht als Familientherapeuten. Außerdem fehlt uns der komplette rechtliche Hintergrund für Lösungsansätze. Lehrer die aus einem „normalen“ Umfeld kommen, waren entsetzt, welcher Lage manche Kinder ausgesetzt sind und wollten dieses Elend nicht an sich herankommen lassen, da man sich nicht mit dem Leid der Kinder belasten kann oder man war auch nur einfach besorgt, dass an einer „guten Schule“ so etwas nicht vorkommen darf. Unser Bewusstsein hat sich verändert. Jugendhilfe heißt bei uns in den beiden Schulen wirkliche Hilfe zur Selbsthilfe. Wir haben die Scheu verloren mit unseren Fachkräften brisante Probleme zu besprechen, weil wir darauf vertrauen können, dass nicht augenblicklich große juristische Folgen drohen. Wir nennen das den kleinen Dienstweg.
Für etliche Eltern scheint der Gang nachmittags in die Freizeitstätte ihrer Kinder zu einem Gespräch einfacher zu sein als mit dem Lehrer in der Schule zu sprechen Das mag nicht zuletzt vielleicht mit eigenen Erlebnissen in der Schulzeit zusammenhängen. Gemeinsame Gespräche mit allen Beteiligten, sei es in der Hausaufgabenhilfe oder mit moralische Unterstützung des Sozialarbeiters in der Schule sind effektiver.
Gemeinsam schaffen wir es, dass Kinder wieder sicher und gefestigt zur Schule kommen- wie o.a.- sie fühlen sich sicher und stark.
Kinder stark zu machen ist ja wohl inzwischen das wichtigste Erziehungsziel, denn nur starke Kinder können schulisches Lernen angehen und Aufgaben lösen, können anderen Hilfe geben und auch Hilfen annehmen, sind gruppenfähig, weil sie sich ohne Fäuste oder ähnliche Aggressionsinstrumente behaupten können.
Im Laufe der letzten Jahre stand die Schulsozialarbeit wieder finanziell auf der Kippe. Wir haben uns mit dem AK an die entsprechenden Gremien gewandt und haben unsere Arbeit in den Medien dargestellt. Wir haben den Blick darauf gelenkt, dass diese Arbeit vergleichsweise ziemlich billig ist, betrachtet man dagegen Heimunterkunft oder Tagesplätze, keine Berufschancen mangels Abschlüssen u.a.
Im Sommer vergangenen Jahres wurde uns das Weiterbestehen der Schulsozialarbeit bis auf Weiteres garantiert, da jedem bewusst ist, dass ein ordentlicher Schulabschluss und eine bestimmte soziale Verhaltensnorm in unserer Gesellschaft notwendig sind, um als Erwachsener seinen Lebensunterhalt selbstständig bestreiten zu können und nicht in Armut und soziale Ausgrenzung oder gar Kriminalität abzugleiten.
Schwierigkeiten beim Entstehen der gemeinsamen Arbeit sollen hier nicht verschwiegen werden. Das Vertrauen in die Mitarbeiter und in gemeinsame Arbeit musste aus schulischer Sicht erst wachsen. Lehrer in „normalen“ Verhältnissen lebend, haben zwar von Einrichtungen wie Jugendhilfe oder Jugendamt gehört, sind aber in ihrem persönlichen Leben niemals damit konfrontiert worden. Die Erkenntnis, dass mit wachsender gesellschaftlicher Veränderung auch das Berufsbild des Lehrers einem Wandel unterworfen ist, ist augenfällig.
Man begrüßt die Sozialarbeiter und deren Arbeit als echte Hilfe und notwendige Unterstützung. Mit dem Zuwachs von Vertrauen wächst auch das persönliche Engagement immer mehr. Der Kontakt wird zusehends enger, d.h. wir werden zu Festen im Jugendtreff eingeladen, die Sozialarbeiter kommen gerne zu unseren Festen in die Schule. Betroffene Eltern erleben dankbar diese Zusammenarbeit und fühlen sich in ihren Erziehungsbemühungen bestärkt.
Schwierigkeiten bestanden bei Eltern, denen wir Hausaufgabenhilfe anboten, da sie selbst z.B. keine Zeit hatten, die Aufsicht über die Arbeit ihrer Kinder zu führen. > In dieses Haus geht mein Kind nicht, das ist nicht der richtige Umgang.
Wir haben das Schulprogramm gemeinsam mit Eltern gestaltet und in der Schulkonferenz zusammen abgesegnet. Information und Einsicht schaffen auch zunehmend in diesen Elternhäusern eine richtige Betrachtensweise der Einrichtung.
Einen einstimmigen Konsens gab es darüber, die Zusammenarbeit Schule Jugendamt- Jugendhilfe ins Schulprogramm aufzunehmen, so dass sie verbindlich für alle Beteiligten festgeschrieben ist.
Kollegen und Eltern jedenfalls vertrauen auf die Verlässlichkeit dieser Zusammenarbeit zum Wohle der Kinder.
3. Referat Heike Boldt vom Projekt Fischbacher Berg
Der Kontakt von Jugendhilfe und Schule ist gut – es herrscht Konsens bei allen SchulleiterInnen, dass Schulsozialarbeit wünschenswert und sinnvoll ist, obwohl nur wenige Schulen an den 4 Projekten in Siegen beteiligt sind.
Das Siegener Modell ist nicht nach klassischen Modellen einzuordnen – es ist mehr als nur Hausaufgabenhilfe, ist auch nicht klassische Schulsozialarbeit, die ja in Schule selbst stattfindet.
Es sind viel Information und Gespräche mit den Eltern nötig, wenn die Schule ein Kind zur Schulsozialarbeit vorschlägt. Viele Eltern fürchten eine Stigmatisierung ihrer Kinder durch die Teilnahme am Projekt – die Schule muss viel Überzeugungsarbeit leisten. Da die SozialarbeiterInnen aber regelmäßig in den Schulen auftauchen, wird die Zusammenarbeit der beiden Einrichtungen von den Eltern gesehen.
In den sozialen Brennpunkten erleben Eltern die Schulsozialarbeit als derart entlastend, dass ihnen „die Bude eingerannt“ wird.
Über die Plätze gibt es Verträge mit den Eltern, dass sie die Kinder regelmäßig ins Projekt schicken. Sie müssen sich zu einer gewissen Verlässlichkeit bereit finden.
Oft geht die Arbeit mit den Kindern über die Grundschule hinaus, manchmal bis zum Ende der 6. Klasse. Auch danach laufen die Kontakte mit den Kindern weiter über die offene Jugendarbeit, die (gerade am Abend) von den Einrichtungen auch angeboten wird.
Es hat sich gezeigt, dass Schulsozialarbeit eine sehr gute positive Rückwirkung auf die offene Jugendarbeit hat.
18.4.02 Brigitte von Schoenebeck