Interview Meinolf Noeker
29. Feb. 2012
Interview mit Dr. Meinolf Noeker, erster GRÜNER Landesrat beim LWL
Seit Januar ist Dr. Meinolf Noeker (Jahrgang 1959) GRÜNER LWL-Krankenhausdezernent und damit Leiter des LWL-Psychiatrieverbunds mit mehr als 100 regionalen Einrichtungen, in denen 9.300 Beschäftigte jährlich rund 180.000 Menschen versorgen.
Zuletzt arbeitete der Diplom-Psychologe und Privatdozent als Wissenschaftler und klinischer Therapeut an den Schnittstellen zwischen Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie. Neben der universitären Lehre engagierte Noeker sich als Dozent und Supervisor in der Ausbildung von Psychotherapeuten in Verhaltenstherapie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
Du warst langjähriges Fraktionsmitglied der GRÜNEN Fraktion im rheinischen Schwesterverband beim Landschaftsverband Rheinland (LVR). Wie hilft Dir diese Erfahrung?
Ich war seit dem ersten Einzug der GRÜNEN in die Kommunalparlamente und damit auch Landschaftsversammlungen im Jahre 1984 durchgängig bis 2004 Mitglied und schließlich Vorsitzender im Gesundheitsausschuss, ebenso Vorsitzender der Kommission für die forensischen Kliniken. Im Grunde sind alle Themen, an denen ich jetzt arbeite, anschlussfähig an Vorerfahrungen aus der Rheinischen Psychiatriepolitik. Mein Fundus aus diesen zwanzig Jahren psychiatrie-, gesundheits-, und sozialpolitischen Debatten ist enorm hilfreich für die politischen Bewertungen jetzt im LWL. Andererseits gilt mindestens genauso die Wahrheit: die Rolle eines Dezernenten ist eine komplett andere als die eines Gesundheits- und Psychiatriepolitikers.
Was reizt Dich an der Aufgabe?
Ich finde es besonders reizvoll, an der Innovation psychiatrischer Versorgung mitwirken zu können und gleichzeitig jetzt einem großen Psychiatrieverbund vorstehen zu dürfen. Noch stärker als in meiner früheren Rolle in der politischen Vertretung bin ich jetzt noch konkreter gefordert, die realen Ergebnisse von Entscheidungen für den PatientInnennutzen durchzuprüfen. Es braucht eine gute Kombination aus Bodenhaftung und Augenmaß einerseits und Kreativität und Innovationsfreude andererseits. Und natürlich braucht es BündnispartnerInnen in allen Bereichen. Eine der schönsten Freuden auf dem Globus ist die des gemeinsam getragenen Gestaltens. Das war schon damals für mich ein wichtiges Motiv, mich politisch zu engagieren.
Wie gewinnst Du die nötigen BündnispartnerInnen?
An erster Stelle steht natürlich die politisch günstige Rahmenkonstellation aus der wechselseitigen Unterstützung mit der GRÜNEN LWL-Fraktion, aber auch der gesamten, vertrauensvoll arbeitenden Gestaltungsmehrheit mit SPD und FDP. Aber politische Macht alleine reicht nicht aus, um Ziele nachhaltig zu erreichen. Man muss parallel Überzeugungsarbeit leisten, damit eine fortschrittliche Psychiatrie- und Behindertenpolitik wirklich gewollt und breit mitgetragen wird. Wir können im LWL viele gute und schlaue Beschlüsse fällen; das hilft nur begrenzt, wenn diese in den politisch unterschiedlich regierten Kommunen nicht mitgetragen werden. Hier brauchen wir oft auch den konservativen CDU-Landrat als Mitglied der Landschaftsversammlung und VertreterInnen unserer Anliegen vor Ort.
Auch in der Kommunikation mit den Ärztlichen, Kaufmännischen und Pflegerischen DirektorInnen stößt rein dienstliches Anordnen schnell an seine Grenzen. Bei der fachlichen Überzeugungsarbeit mit den psychiatrischen Profis hilft mir natürlich mein fachlicher Background aus jahrzehntelanger eigener Klinikstätigkeit und wissenschaftlichem Arbeiten. Ich investiere viel Zeit und Energie in den Aufbau kollegialer Beziehungen zu meinen MitdezernentInnen, zu den Betriebsleitungen und MitarbeiterInnen in den Kliniken, Wohnverbünden und Pflegezentren, zu den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im eigenen Dezernat, den Personalvertretungen und nicht zuletzt zu allen politischen Fraktionen der LWL-Landschaftsversammlung, also inklusive der Opposition aus CDU bzw. Linken. Ich bin sehr angetan von der Offenherzigkeit und authentischen Kooperationsbereitschaft, die mir entgegen gebracht wird. Ein GRÜNER Dezernent ist kein Schreckgespenst mehr, im Gegenteil eher ein Synonym für Vorrang von Fachlichkeit.
Welche Kernbotschaft hast Du für die Bevölkerung?
Wir haben einen gesellschaftlichen Konsens für die Botschaft erreicht: „Auch wenn Du als Mensch in Westfalen-Lippe eine Behinderung erleidest, in eine Krise rutschst, psychisch krank wirst: Wir grenzen dich nicht aus, wir erklären Dich nicht für schuldig. Wir haben zumindest den Anspruch, dass niemand aus der Gesellschaft herausfallen soll.“ Das ist aus meiner Sicht der mentale, bewusstseinsbildende Fortschritt, der in der Inklusionsdebatte steckt, unabhängig von vielen kleinen Teufelchen im Detail der praktischen Umsetzung.
Welche Kernbotschaft hast Du für die Beschäftigten?
Ich habe selber 25 Jahre lang klinische Arbeit von innen her kennen und lieben gelernt. Und ich habe den Wunsch für die Beschäftigten, dass sie diese Freude an der Arbeit mit dem individuellen Patienten wach halten können – auch wenn ich in meiner persönlichen Prognose wirtschaftlich eher schwierige Zeiten auf uns zukommen sehe. Ich weiß um die Arbeitsverdichtung vor Ort und dass es gerade für Beschäftigte mit einem hohen sozialen Ethos frustierend und teilweise demotivierend wirken kann, die Auswirkungen von Budgetdeckelung und Unterfinanzierung von Investitionsmaßnahmen durch Restriktionen in der Arbeit mit den PatientInnen abfedern zu müssen.
Welche fachliche Grundorientierung hast Du?
Unsere „Produkte“ sind nicht Kühlschränke oder Investmentanlagen, sondern seelische Gesundheit und soziale Inklusion bedürftiger, benachteiligter, erkrankter oder behinderter Menschen. Und psychische Störungen und Behinderungen nehmen zu. Die Psychiatrie und noch mehr die Psychotherapie verlieren ihre Stigmatisierung und werden normaler und in der Bevölkerung breiter akzeptiert. Damit steigt die Inanspruchnahme. Unter der Annahme gleichbleibender Ressourcen für die psychiatrische Versorgung bedeutet dies für uns in der Psychiatrieplanung, Priorisierungen vorzunehmen. Hier gelten für mich unverändert die klassischen Leitprinzipien der Gemeinde- und Sozialpsychiatrie. Also der Grundsatz: die Versorgungsplanung immer aus der Perspektive und Interessenslage der Bedürftigsten zu konzipieren.
Psychiatrische Krankenhäuser sind nicht nur gesundheitliche Dienstleister, sondern auch große Wirtschaftsunternehmen am Markt. Was heißt für Dich Wirtschaftlichkeit?
Nun natürlich zunächst einmal betriebswirtschaftlich ausgeglichene Betriebsergebnisse der Kliniken und Einrichtungen. Diese brauchen wir unabweisbar, um keine Privatisierungsdebatten aufflackern zu lassen. Privatisierung psychiatrischer Kliniken führt zu Strukturen, die an der Grundversorgung der Bevölkerung vorbeiführen. Daher bekenne ich mich ausdrücklich zur öffentlich-rechtlichen, politisch kontrollierten Trägerschaft im Allgemeinen und zu der durch die Landschaftsverbände im Besonderen.
Politik und Verwaltung begegnen hier dem Bürger, der Bürgerin gegenüber
- erstens als NutzerInnen unserer Leistungen, also als PatientIn oder Angehöriger, die zu Recht erwarten dürfen, dass wir eine moderne, fachlich begründete, humane und inklusionsorientierte Behandlung und Unterstützung anbieten und organisieren,
- und zweitens als SteuerzahlerIn, der/die zu Recht erwarten darf, dass wir uns nicht in Verteilungskämpfen verbeißen, ob wir die Leistungen nun aus seiner linken oder rechten Hosentasche bezahlen, sondern uns gemeinsam daran ausrichten, die effektivsten Antworten zu finden.
GRÜNES Wirtschaften bleibt aber nicht bei schwarzen Zahlen stehen …
Richtig. Neben dem Aspekt der Betriebserlöse stehen wir als treuhänderischer Verwalter von Steuergeldern in einer zusätzlichen Verantwortung: Wir müssen die Effektivität und den Nutzen unserer Leistungen für die Bevölkerung optimieren und belegen. Dies sind zwei unterschiedliche ökonomische Ebenen. Wir könnten betriebswirtschaftlich effizient schwarze Zahlen erwirtschaften, und dennoch in unserer Effektivität bei der Erreichung gesundheitlicher Ziele für die Bevölkerung versagen. Das Geld folgt nicht zwingend der fachlich besten Leistung. Viele, vor allem private Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt richten sich strategisch alleine auf Leistungen mit einer maximalen Rendite aus. Die Ergebnisse lauten bekanntermaßen Überversorgung, Unterversorgung oder Fehlversorgung – und das mitunter bei ein und demselben Patienten. Das Resultat ist volkswirtschaftliche Ineffektivität, die am Schluss von Allen zu tragen ist, bei gleichzeitig eindrucksvollen betriebswirtschaftlichen Renditen. Eine Kernidee GRÜNER Wirtschafts- und Sozialpolitik ist demgegenüber für mich, die Auswirkungen betriebswirtschaftlicher Entscheidungen auf volkswirtschaftliche und fiskalische Ergebnisse immer im Blick zu halten.
Welche besonderen Herausforderungen zeichnen sich für das nächste Jahrzehnt ab?
Tatsächlich sehe ich sehr schwierige Zeiten auf uns zukommen. Einige Eckpunkte sind: Ein neues, eher restriktives Entgeltsystem für die Psychiatrie ist soeben vom Bundeskabinett verabschiedet worden. Wir müssen gleichzeitig ein anspruchsvolles Bauprogramm umsetzen, damit die Gebäudesubstanz nicht verfällt und wir die sinnvollen Anforderungen aus dem Wohn- und Teilhabegesetz NRW wie z.B. Einbettzimmer als Standard erfüllen. Dieses Bauprogramm wird aus den Betriebserlösen der Kliniken finanziert, also nicht – wie viele KommunalpolitikerInnen glauben – aus der Landschaftsverbandsumlage!
Wir sind Jahr für Jahr mit einer Schere zwischen Tarifsteigerungen und gedeckelten Klinikbudgets konfrontiert, wir sind also strukturell unterfinanziert. Wir sehen einem drastischen Fachkräftemangel bei ÄrztInnen und Pflegekräften entgegen. Das erzeugt schmerzliche Zielkonflikte zwischen notwendiger baulicher Investition, Aufrechterhaltung eines fachlich vertretbaren Personalstandards und unserem Wunsch nach weiterer Dezentralisierung unserer Behandlungsangebote in die Fläche und in die Kommunen hinein.
Wie siehst Du die Verbindung von Wirtschaftlichkeit und Fachlichkeit konkret beim PsychiatrieVerbund des LWL?
Im Vergleich, neudeutsch: Benchmarking betriebswirtschaftlicher Ziffern mögen wir als Landschaftsverbände auf den ersten Blick in Folge höherer Tarifbindungen etc. teurer wirken, bei genauerer Betrachtung sind wir bei den Zielen seelische Gesundheit und Inklusion für die Bevölkerung oft sehr weit vorn und sehr effektiv. Der LWL-PsychiatrieVerbund und besonders die Wohnverbünde für chronische PatientInnen versorgen als letztes Auffangnetz viele Menschen, die sonst – das muss man kritisch anmerken – auch durch gemeindepsychiatrische Maschen fallen, weil ihre Betreuung eine besondere, oft extreme Herausforderung darstellt. Die Haltung beim LWL, sich dieser Verantwortung nicht einfach und bequem zu entziehen, sondern sich ohne lautstarke, begleitende PR in der Alltagsarbeit zu stellen, nötigt mir Respekt ab.
Wie kann man eine humane Versorgung besonders intensiv betreuungsbedürftiger PatientInnen dennoch realisieren?
Wirtschaftlichkeit und fachlicher Fortschritt sind nicht immer ein Gegensatz. Ich möchte gerne den Ansatz der sogenannten Personenzentrierten Psychiatrie in unseren Kliniken stärken. In der Regel führt bisher ein Wechsel des/der PatientIn von einem Behandlungssektor – also vollstationär, teilstationär, ambulant – zu einem Wechsel des/der ÄrztIn oder TherapeutIn und damit zu einem Rückschlag in der Behandlungsqualität. Der personenzentrierte Ansatz verfolgt demgegenüber das Ziel, Behandlungskontinuität über stationäre, teilstationäre und ambulante Behandlung aufrecht zu erhalten, indem immer die gleichen ÄrztInnen / TherapeutInnen zuständig bleiben. Das Konzept ist gleichermaßen wirtschaftlich effektiv, human und fachlich Ressourcen schonend.
Du kommst aus dem Rheinland nach Westfalen. Wie kommst Du mit Deinem Migrationshintergrund zurecht?
Nun, ich bin gebürtiger Westfale, bin im Sauerland aufgewachsen und habe dort Abitur gemacht. Es ist also eher das Projekt „Wiederbeheimatung“. Ich merke hier in Münster, dass der Westfale in mir wieder zunehmend wach gerufen wird. Ich mag die westfälische Bescheidenheit verbunden mit Ernsthaftigkeit, psychiatrisch gesagt: die geringe Ausprägung von Narzissmus. In Münster habe ich bereits eine Wohnung bezogen. Meine Familie wird im Sommer nachkommen. Zuerst muss allerdings noch ein Sohn das Abitur beenden und der andere sein Freiwilliges Soziales Jahr in Indien in einem Vorort von Kalkutta.
Meinolf, ganz herzlichen Dank für Deine Antworten. Wir wünschen Dir viel Glück, Freude und Erfolg bei Deiner schwierigen Arbeit. Wir freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit.
Lebenslauf Dr. Meinolf Noeker
Meinolf Noeker studierte von 1977 bis 1984 Psychologie an der Universität Bonn. Am dortigen Zentrum für Kinderheilkunde arbeitete er bis 1991 als wissenschaftlicher Mitarbeiter. Im gleichen Jahr promovierte er, war als wissenschaftlicher Mitarbeiter für kurze Zeit am Lehrstuhl für Klinische Psychologie der Universität Bremen tätig und wechselte als Leiter des psychologischen Dienstes des Zentrums für Kinderheilkunde zurück an die Uni Bonn. 1999 erlangte Noeker die Approbation als Psychologischer Psychotherapeut und Psychologischer Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeut.
In Bonn arbeitete er als Wissenschaftler und klinischer Therapeut in den Schnittstellen zwischen Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie. Neben der universitären Lehre engagierte Noeker sich als Dozent und Supervisor in der Ausbildung von Psychotherapeuten in Verhaltenstherapie für Kinder, Jugendliche und Erwachsene.
2008 erhielt Privatdozent Dr. Noeker an der Universität Bremen die Lehrbefugnis für das Lehr- und Forschungsfach Psychologie. Seine Habilitationsschrift verfasste er über „Funktionelle und somatoforme Störungen im Kindes- und Jugendalter“.
Noeker arbeitete von 1984 bis 2004 als Experte für Psychiatrie- und Behindertenpolitik für die Grünen-Fraktion im Landschaftsverband Rheinland (LVR, Köln) mit. Als langjähriges Mitglied und schließlich Vorsitzender des Gesundheitsausschusses beim LVR war er maßgeblich an der Reform der psychiatrischen Versorgung und dem Aufbau ambulanter Dienste beim LVR beteiligt. Der gebürtige Lennestädter ist verheiratet und hat zwei Kinder.