SGB IX Auswirkungen
27. Mär. 2001
2001-03-16 SGB IX – Auswirkungen auf die Kommunen
Protokoll des Treffens grüner Sozialausschußmitglieder vom 16.3.01 im Landeshaus Münster
Top 1: Begrüßung
Top 2: SGB IX – Auswirkungen auf die Kommunen – Referent Landesrat Dr. Baur
Zu Anfang erläutert Gertrud Meyer die wichtigsten Neuerungen des Gesetzes:
* Vereinheitlichung der Begriffe
* Die Träger der Rehabilitation auf allen Ebenen werden gezwungen, zusammenzuarbeiten
* Leistungsträger müssen dem Behinderten innerhalb einer bestimmten Frist einen Leistungsbescheid erteilen; die Leistungsträger müssen dann die verschiedenen Leistungen unter sich aufteilen
* Es wird vor Ort Servicestellen geben als ortsnahe Ansprechpartner für die Menschen mit Behinderungen
Referat Dr. Baur und Diskussion:
Neu ist die Bestellung eines Beauftragten der Bundesregierung für Behindertenfragen – dieser hat viel Energie in die Verwirklichung des Gesetzes gelegt.
Im Prinzip wäre es notwendig gewesen, die komplizierte und vielfältige Sozialleistungslandschaft gründlich zu reformieren. Dies muss ein nächster Schritt sein.
Kritische / entscheidende Punkte des Gesetzes für Kommunen und Landschaftsverbände sind:
* Der Landschaftsverband vertritt die Auffassung, dass Sozialhilfeträger nicht als Leistungsträger in das Gesetz gehören, da, anders als bei den Leistungen z.B. der Krankenkassen, die Sozialhilfe nur für das einspringt, was der Betroffene selbst nicht zahlen kann. Auch ist die Sozialhilfe nicht lediglich für kurzzeitige Reha-Leistungen zuständig, sondern zahlt oft lebenslang Leistungen für Menschen mit bestimmten Behinderungen.
Die Sozialhilfeleistungen bleiben erhalten wie vorher, Ausnahme sind die WfBs, die jetzt nicht mehr zuzahlungspflichtig sind.
Der LWL fordert ein Leistungsgesetz, das die lebenslänglich Bedürftigen versorgt; man ist überzeugt, dass das jetzt vorliegende Gesetz (SGB IX) nur ein erster Schritt sein kann auf dem Weg zu einem Leistungsgesetz.
* Die Servicestellen sind ein Kernpunkt des Gesetzes:
Im Prinzip müsste in den Beratungsstellen, die in jedem Kreis flächendeckend eingerichtet werden sollen, jeder Leistungsträger vertreten sein, was natürlich nicht möglich ist. Das Gros der Fragen werden Rentenversicherung, Krankenversicherung und Arbeitsverwaltung betreffen, diese werden in den Servicestellen auch vertreten sein. Dr. Baur. schlägt vor, daß für Fragen, die die Sozialhilfeleistungen betreffen, eine Service-Telefonnummer (den ganzen Tag erreichbar) eingerichtet wird.
* Bis jetzt konnten betroffene AntragstellerInnen von einer Stelle zur anderen geschickt werden. Dies wird jetzt nicht mehr möglich sein. Ein einziges Verweisen an eine andere Leistungsstelle ist möglich, die 2. Anlaufstelle muss spätestens die Leistung erbringen. Ist diese eigentlich nicht zuständig, muß sie trotzdem die Leistungen auszahlen und sie an zuständiger Stelle wieder rein holen. Auf Antrag der Betroffenen muss sogar die zuerst angelaufene Stelle in Leistung treten.
Es gibt Fristen, innerhalb derer die Leistung dann gezahlt werden muß. Werden diese nicht eingehalten, ist der/die Betroffene berechtigt, sich selbst die nötigen Leistungen zu beschaffen und den Leistungsträger im nachhinein zur Kasse zu bitten.
Diese Neuerungen machen die hohe Kundenfreundlichkeit des neuen Gesetzes aus.
* Die Begrifflichkeiten sind oft schlecht greifbar: Ein Beispiel dafür ist die Formulierung daß für bestimmte Leistungen „die dem Lebensalter angemessene Funktion des Körpers beeinträchtigt sein muß“ – ein Begriff, den man in 1000 Arten auslegen kann. Auch der Behindungsbegriff ist offen.
* Medizinische , berufliche und soziale Rehabilitation sind im Gesetz enthalten.
Medizinische Leistungen: Ab jetzt kann ein nicht versicherter Mensch aus Sozialhilfe Reha-Leistungen beziehen, ohne seine Vermögensverhältnisse offenlegen zu müssen (Eine Kuriosität, die theoretisch möglich wäre, beträfe z.B. begüterte Menschen, die sich nicht versichern wollen, weil sich das für sie nicht rechnet, die aber dann, wenn teure Reha-Leistungen notwendig werden sollten, diese aus der Sozialhilfe beanspruchen könnten).
Berufliche Leistungen: Der Werkstattbesuch ist ab jetzt komplett freigestellt. Die Kosten dafür werden in Westfalen ca. 3-4 Mio DM betragen. Nicht geregelt ist die Kostenübernahme für alt gewordene Menschen mit Behinderungen: Wenn diese ins Wohnheim gehen, ist wieder Selbstzahlung fällig. Forderung von Dr. Baur ist, auch das Wohnen freizustellen; die Kosten dafür würden in Westfalen 30 Mio DM betragen (im gesamten Bundesgebiet wären es 300 Mio DM). Allerdings müssten im Prinzip auch Betreutes Wohnen und Einzelwohnen freigestellt werden, um einen Sog in Richtung Wohnheime zu verhindern.
Das Thema Wohnen ist nicht im Gesetz enthalten, es gibt aber Bestrebungen der Regierungsfraktionen, in diesem Bereich Nachlösungen anzustreben. Eine mögliche Lösung wäre, daß jüngere Menschen 60% des Kindergeldes als Unterhalt zu zahlen hätten, ab 37 Jahre noch 40%. Der Rest soll Sozialhilfeleistung bleiben.
* Gehörlose haben jetzt einen Anspruch auf DolmetscherInnen – der Sozialleistungsträger, den es jeweils betrifft, muss die Kosten dafür übernehmen, (den Zahnarztbesuch zahlt jetzt die Krankenkasse, nicht mehr der Sozialhilfeträger.)
* Zum Verhältnis von Pflege zur Eingliederungshilfe: Es hat lt. Dr. Baur in Westfalen keine Umwidmung von Einrichtungen der Eingliederungshilfe in Pflegeeinrichtungen gegeben, bis auf wenige Ausnahmen und dann nur im Einvernehmen mit allen Beteiligten.
* Integrationsfirmen / -fachdienste sind dem Schwerbehindertenrecht zugehörig.
In den fortschrittlichen Bundesländern, wo die Sozialhilfeträger (HFSt) die flächendeckenden Integrationsfachdienste bereits eingerichtet hatten, hat man protestiert, daß die Arbeitsverwaltungen nun diese Aufgabe übernehmen sollten. Deshalb wurde jetzt eine Lösung gefunden, wo beide bei dieser Aufgabe jetzt Partner sein sollen: Nicht nur Mittel aus der Ausgleichsabgabe, sondern auch Arbeitsamtsmittel fließen in die Finanzierung.
Wichtig wäre, auch die Menschen, die in Werkstätten arbeiten und die, die aus Sonderschulen kommen, mit Hilfe dieses neuen Instruments auf den allgemeinen Arbeitsmarkt zu bringen. Erste Ansätze dazu schreibt das Gesetz vor.
Das wird natürlich Auswirkungen auf die Leistungsfähigkeit der Werkstätten haben und könnte dazu führen, daß die Werkstätten in den nächsten Jahren ihren jetzigen Charakter verlieren und von sich selbst tragenden Produktionsstätten zu subventionsabhängigen Arbeitsstätten werden.
* Die Sozialausschüsse und die örtlichen Träger in den Kreisen müssen sich fortan des Themas Servicestellen annehmen; bislang herrscht in vielen Kreisen noch Ratlosigkeit, wie man diese neue Aufgabe angehen soll. In vielen Kreisen hatte man die Fürsorgestellen mehr und mehr aufgelöst mit dem Argument, dass man heutzutage keine Kriegsopferfürsorge mehr brauche: Dabei sind die Hauptaufgaben von Fürsorgestellen längst die begleitenden Hilfen im Arbeitsleben. Diese Fürsorgestellen fehlen jetzt als wichtige Partner für die Servicestellen.
(Wir werden dazu einen Musterantrag für die örtlichen Sozialhilfeausschüsse formulieren, um abzufragen, warum die Fürsorgestelle aufgelöst wurde und wer ihre Aufgaben jetzt erledigt =>infodienst)
Top 2: Komplementäre Dienste
Kreis GT:
Im HH wurde der Bestand gesichert, aber im Sozialausschuss steht eine Auseinandersetzung zum Thema an
Stadt Münster:
Neben dem städt. HH gibt es eine städt. verwaltete Stiftung, die Gelder zur Verfügung stellt. Es gibt noch kein langfristiges Konzept, wie die Angebotsstruktur trotz wegfallender Mittel in Zukunft aussehen wird. In Münster gibt es einen Anbieter, der nur komplementäre Dienste anbietet, dieser hat die Mittel aufgestockt bekommen.
Gelsenkirchen:
War kein eigenständiges Thema, Sozial-HH insgesamt ist ganz gut durchgegangen.
Kreis Lippe:
Der Sozialdezernent hat geleugnet, daß der Kreis nach Wegfall der Landesförderung zuständig sei und wollte die Kosten auf die kreisangehörigen Gemeinden abwälzen; aufgrund der Landes-Übergangsförderung hat der Dezernent sich aber noch kurzfristig bereit erklärt, die Angebotsstruktur vorerst weiter zu finanzieren. Drei AnbieterInnen sind bereits pleite.
Kreis Coesfeld:
Auch hier droht die AnbieterInnenstruktur in die Knie zu brechen, da der Kreis zögerlich mit dem Thema umgeht und vor einer Finanzierung erst die Kosten prüfen will.
Kreis Steinfurt:
Ein Antrag der GRÜNEN (Musterantrag!) hat im Ausschuss bewirkt, daß die Anbieter Geschäftsführungskosten finanziert bekommen. Dafür sollten sie die Angebotsstruktur aufrechterhalten. Dies gelingt aber nicht und kann nicht gelingen.
Kreis Recklinghausen:
Es hat hierzu eine Umfrage des Kreises gegeben – eine Zukunftswerkstatt ist eingerichtet worden. Alle Fraktionen waren sich einig, daß im nächsten Jahr mehr Geld für diese Aufgabe bereitgestellt werden muß.
Kreis Unna:
Das Thema ist immer wieder von der Tagesordnung genommen worden – die Finanzierung ist nicht gesichert, die komplementären Dienste gehen wohl den Bach runter.
Top 3: Nachrichten aus dem Landtag
* Komplementäre Dienste: Dieses Thema war ein sehr starkes Konfliktfeld in den Koalitionsverhandlungen. Die SPD vertrat den Standpunkt, die Förderung sei ausgelaufen. Die Fortführung der Finanzierung für 99 und 2000 ist nur mit Mühe erreicht worden. Ziel der GRÜNEN ist, das Budget für komplementäre Dienste zu halten. Auch für das nächste Jahr soll es noch eine Übergangsfinanzierung geben, der Ausstieg aus der Förderung muss schrittweise erfolgen.
Zwei Bereiche sollen ganz in der Förderung bleiben: Die Familiendienste und die ambulanten Hospizdienste, die mit Einverständnis des Ministeriums weiterhin voll finanziert werden. Sogar eine Erhöhung für die Errichtung 10 neuer Dienste ist gegen den Willen der SPD erreicht worden.
* LPfG: es wird eine Weiterentwicklung geben, Anhörungen stehen ins Haus.
* Die Sozialpolitiker in der SPD sind in ihrer Partei mehr und mehr vor die Wand gelaufen; es war deshalb für die GRÜNEN um so schwieriger, Vorstellungen durchzusetzen. Hingegen hat die gesamte grüne Fraktion ihre sozialpolitische Verantwortung voll angenommen.
* HH-Beratungen im Sozialbereich – s. beiliegendes Papier
Top 4: Berichte aus den Kreisen
Münster:
Zur Zeit laufen zwei Anträge zu neuen Wohnformen und „Wege aus der Sozialhilfe“. Die Anträge werden der LWL-Fraktion zur Verfügung gestellt und verschickt (infodienst).
Gütersloh:
Es gibt jetzt eine Familien- und Sozialdienstberichterstattung (ersetzt Armutsberichterstattung)
Halle:
mangelnde Kindergartenplätze; Projekte zum Rechtsextremismus
Kreis Unna:
In der Diskussion zur Zeit: Hilfe zur Arbeit und Unterstützung modellhafter Sozialarbeit; neu ist ein Projekt Sozialkaufhaus, wo auch Arbeitslose beschäftigt werden. Mehrere Projekte in der dritten Welt werden unterstützt.
Holzwickede:
Neubau von Spielplätzen
Recklinghausen:
Wichtige Themen sind: Zukunftswerkstatt Komplementäre Dienste, Schwangerschaftsberatung, Nachsorge im Bereich der Forensik (neuer Standort Herne), Gutachten der Krankenkassen
Steinfurt:
Behinderung im Alter; Netzwerk offene Hilfen für behinderte Menschen
Coesfeld:
Pflegebedarfsplan, alternative Wohnformen für behinderte Menschen, Pauschalisierung der Sozialhilfe
Lippe:
Schwangerschaftskonfliktberatung, Beratung und Betreuung Wohnungslose
Top 5: Verschiedenes
Der nächste Termin für das Treffen der Sozialausschußmitglieder ist der 8.6.01.
Themen:
* Komplementäre Dienste (Die Investitionskosten sollen problematisiert und Richtlinien erarbeitet werden, wie wir uns die Struktur der komplementären Dienste unter den gegebenen Bedingungen vorstellen.
* Neuausrichtung der Sozialämter
* Hilfe zur Arbeit
Übernächstes Schwerpunktthema wird sein: Menschen mit Behinderungen
27.03.01 Brigitte von Schoenebeck